– Statement des CAGS zur Bundestagsdebatte am 19.11.2020 zur Aufarbeitung kolonialen Unrechts
Lange Zeit war die Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte in der Geschichtswissenschaft randständig. Selbst Historiker*innen unterschätzten die Relevanz der deutschen Kolonialherrschaft. Sie erkannten weder, in welchem Ausmaß das deutsche Kolonialsystem und die Kolonialkriege sich auf die afrikanischen Gesellschaften ausgewirkt haben, noch, welche kulturellen, politischen und ökonomischen Langzeitfolgen damit einhergingen. Erst seit etwa zwei Jahrzehnten beginnt sich dies langsam zu ändern. Dass der Bundestag sich in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal damit befasste, wie ein angemessener Umgang mit der eigenen Kolonialgeschichte und eine entsprechende Erinnerungskultur aussehen könnten, ist ein Zeichen dafür, dass sich auch auf der politischen Ebene ein längst überfälliger Perspektivwechsel abzeichnet. Zu verdanken ist dieser allmähliche Wandel in erster Linie den Opferverbänden in Afrika, denen es gelang, internationalen Druck aufzubauen, aber auch zivilgesellschaftlichen Bewegungen, die sich seit Längerem auch hierzulande für die Überwindung von strukturellem Rassismus und Fremdenfeindlichkeit engagieren. Als Dritte im Bunde stellt schließlich die geschichts-, sozial- und kulturwissenschaftliche Kolonialismusforschung eine unverzichtbare akademische und gesellschaftspolitische Ressource dar. Obwohl chronisch unterfinanziert und in die „Kleinen Fächer“ verbannt, leistet sie seit rund 50 Jahren sowohl in der Grundlagenforschung als auch der Lehrer*innenbildung einen bedeutenden Beitrag zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und ihrer Langzeitwirkungen sowie zur allgemeinen Förderung weltgesellschaftlichen Bewusstseins.
Das Centre for Atlantic and Global Studies (CAGS) begrüßt die Befassung des Bundestags mit der deutschen Kolonialgeschichte und unterstützt die Forderungen Mehrheit der Bundestagsabgeordneten
· die deutsche Kolonialgeschichte umfassend zu erforschen und aufzuarbeiten
· eine sorgfältige Provenienzforschung und Restitutionsgespräche auf Augenhöhe zu fördern
· die deutsche Kolonialgeschichte in Schulbüchern und Lehrmaterialien sowie im (Schul-) Unterricht umfassend und kritisch zu vermitteln
Gerade der letzte Aspekt ist unabdingbar, um junge Menschen für weltgesellschaftliche Bezüge zu sensibilisieren und sie auf die Lösung globaler Probleme vorzubereiten. Dieser Bildungsauftrag trägt schließlich auch der lebensweltlichen Diversität hierzulande Rechnung, d.h. er erkennt an, dass ein erheblicher Anteil an Schüler*innen und Studierenden einen Bildungs- und Sprachhintergrund hat, welcher die stärkere Präsenz der Weltregionen des Globalen Südens in universitären und schulischen Curricula erfordert.
Für die Bearbeitung internationaler Probleme, aber auch für die Eröffnung neuer globaler Perspektiven spielt der afrikanische Kontinent eine zentrale Rolle, wie die Abgeordneten ganz richtig feststellten. Die Antworten auf globale Herausforderungen und Krisen können nur im internationalen Dialog erarbeitet werden. Dies bedarf fachlicher Expertise, einer genauen Kenntnis der gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Kontexte der Partnerländer. Das CAGS sieht seine Aufgabe bereits seit seiner Gründung darin, dieses fachliche Wissen zu erarbeiten und an zukünftige Lehrer*innen sowie Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen zu vermitteln.
Vor diesem Hintergrund halten es die Mitglieder des CAGS für unabdingbar, dass die historische, sozial- und kulturwissenschaftliche Expertise im Bereich der Atlantischen Beziehungen an der Leibniz Universität Hannover in den Struktur- und Entwicklungsplanungen der LUH langfristig konsolidiert wird. Dies ist insbesondere notwendig, da sich dieser Schwerpunkt in Forschung und Lehre durch sein Alleinstellungsmerkmal auszeichnet, nicht nur für das Land Niedersachsen, sondern bundesweit. Dies bedeutet vor allem auch, dass das Fachgebiet Afrikanische Geschichte gesichert bleiben muss, als integraler Bestandteil des Forschungs- und Lehrschwerpunkts „Atlantische Welt“ und schlechterdings unverzichtbare Ressource für die Kolonialismus- und postkoloniale Provenienzforschung im Verbund mit Museen und ethnologischen Sammlungen in Niedersachsen.